Prüfungsschema für das Grundrecht ‚Allgemeines Persönlichkeitsrecht' (APR, Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) als Abwehrrecht der Bürger gegen den Staat.
Vom Schutzbereich umfasst sind insb. das Recht zur Selbstdefinition (teilw.: Selbstbestimmung), Selbstdarstellung und Selbstbewahrung (Privatsphäre).
Ausprägungen des APR (bzw. nach a.A. eigenständige Grundrechte) stellen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung sowie das „Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme" (teilw. auch: IT-Grundrecht oder Computer-Grundrecht) dar.
- Inhaltsverzeichnis
- Schutzbereich
- Persönlicher Schutzbereich
- Natürliche Personen
- Juristische Personen
- Sachlicher Schutzbereich
- Selbstdefinition (teilw.: Selbstbestimmung)
- Selbstdarstellung
- Selbstbewahrung
- Eingriff
- Rechtfertigung
- Einschränkbarkeit des Grundrechts (‚Schranke‘)
- Grenzen der Einschränkbarkeit (‚Schranken-Schranke‘)
- Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes
- Formelle Verfassungsmäßigkeit
- Zuständigkeit: Gesetzgebungszuständigkeit
- Verfahren: Gesetzgebungsverfahren
- Form: Ausfertigung und Verkündung
- Materielle Verfassungsmäßigkeit
- Allgemeine materielle Anforderungen
- Verhältnismäßigkeit
- Legitimer Zweck
- Geeignetheit
- Erforderlichkeit
- Angemessenheit: Sphärentheorie
- Rechtfertigung bei Eingriffen in die Sozialsphäre
- Rechtfertigung bei Eingriffen in die Privatsphäre
- Rechtfertigung bei Eingriffen in die Intimsphäre (Kernbereich privater Lebensgestaltung)
- Ggf. Verfassungsmäßigkeit des Einzelakts
Schutzbereich
Persönlicher Schutzbereich
Natürliche Personen
Das APR ist ein ‚Jedermanngrundrecht‘ (auch ‚Menschenrecht‘), auf das sich alle natürlichen Personen – unabhängig von ihrer Nationalität – berufen können.
Juristische Personen
- Juristische Personen des öffentlichen Rechts können sich nicht auf das APR berufen.
- Juristische Personen des Privatrechts können sich nach Art. 19 III GG nur auf den Teil des APR berufen, der seinem Wesen nach auf diese Anwendbar ist (‚wesensmäßige Anwendbarkeit‘). Siehe hierzu auch das Schema Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen, Art. 19 III GG.
Die Menschenwürde ist nicht ihrem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar, da sie an natürliche Qualitäten des Menschen bzw. das „Menschsein" an sich anknüpft. Daher können sich juristische Personen nach Ansicht des BVerfG nicht auf die in der Menschenwürde (Art. 1 I GG) verankerten Ausformungen des APR berufen (str.); anerkannt hat das BVerfG eine Berufung juristischer Personen des Privatrechts auf Teile des Rechts am gesprochenen Wort, am eigenen Bild sowie auf informationelle Selbstbestimmung.
Sachlicher Schutzbereich
Der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts lässt sich – ähnlich wie jener der allgemeinen Handlungsfreiheit – aufgrund seiner lückenschließenden Gewährleistung nicht abschließend bestimmen. Im Kern steht das Recht des Einzelnen, seine Individualität selbstbestimmt zu entwickeln, darzustellen und zu wahren. Ohne dass dem irgendeine abschließende Funktion zukommt, nimmt die Literatur zur besseren Anschauung häufig eine Untergliederung in drei Ausprägungen vor:
Selbstdefinition (teilw.: Selbstbestimmung)
Zur Selbstdefinition gehört insbesondere die Ausgestaltung der eigenen Persönlichkeit.
Nicht abschließende, beispielhafte, in der Rspr. anerkannte Ausprägungen sind:
- die Kenntnis von Abstammungsinformationen,
- die sexuelle Selbstbestimmung / sexuelle Orientierung / geschlechtliche Identität wie etwa Transsexualität oder Intersexualität und (eng damit verknüpft) die Wahl eines passenden Geschlechtseintrags,
- das selbstbestimmte Sterben inkl. der Hilfe Dritter hierfür.
Die Selbstdefinition / Selbstbestimmung als ein Teil des Schutzbereichs hier ist nicht zu verwechseln mit dem mehr oder weniger verselbstständigten Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (dazu unten).
Selbstdarstellung
Zur Selbstdarstellung gehört insbesondere das Recht des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden.
Nicht abschließende, beispielhafte, in der Rspr. anerkannte Ausprägungen sind das:
- Recht zur Wahl bzw. Beibehaltung des eigenen Vor‑ bzw. Nachnamens (etwa bei Änderungen der geschlechtlichen Identität)
- Recht auf die Darstellung der eigenen Person, insbesondere in Presseberichten. Eng damit verbunden sind:
- Recht am eigenen Bild
- Recht am gesprochenen (tatsächlichen) Wort sowie des Schutzes vor der Unterschiebung nicht getätigter Äußerungen
- Recht der persönlichen Ehre
Selbstbewahrung
Zur Selbstbewahrung gehört insbesondere das
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Recht auf Achtung der Privat- und Intimsphäre
Umfasst ist der Schutz eines eigenen autonomen Bereichs privater Lebensgestaltung – in dem der Einzelne sich so verhalten kann, wie er möchte, sowie seine Individualität entwickeln und wahren kann – vor einem Eindringen oder Einblicken durch Dritte. Dies wird oft auch umschrieben als ‚Recht auf Achtung der Privat- und Intimsphäre‘.
Beispiele: der familiäre Bereich, das eigene Geschlechtsleben
Das Recht auf Privat- und Intimsphäre als Teil des Schutzbereichs gilt es nicht zu verwechseln mit der – erst auf Ebene des Eingriffs bzw. dessen Rechtfertigung relevanten – Sphärentheorie, s.u.).
- Sonderfall: „Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme" (teilw. auch: IT-Grundrecht oder Computer-Grundrecht)
In der Literatur wird das Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme teilweise als Unterfall des APR, teilweise als eigenständiges Grundrecht dargestellt und aufgebaut. Entsprechend kann sich auch in der Klausur für eine Variante entschieden werden.
Eingriff
Zuerst sollte das Vorliegen eines ‚klassischen Eingriffs‘ geprüft werden; nur wenn ein Merkmal nicht erfüllt ist, sollte auf den ‚modernen Eingriffsbegriff‘ eingegangen werden. Siehe hierzu ausführlich das Prüfungsschema Freiheitsgrundrechte.
Eingriff = Jedes staatliche Handeln, das zur Beeinträchtigung des Schutzbereiches führt und nach dem …
- klassischen Eingriffsbegriff final, unmittelbar, rechtsförmig und zwangsförmig ist, bzw.
- modernen Eingriffsbegriff (auch: ‚neuer Eingriffsbegriff‘) ein „funktionales Äquivalent" zu einem klassischen Eingriff darstellt.
Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Eingriff eines der folgenden Merkmale aufweist: besondere Intensität, besondere Finalität oder besondere Zurechenbarkeit (meist definiert als Kausalität plus Vorhersehbarkeit).
Besonderheiten beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung: Jede Erhebung, Speicherung und Verwendung von Daten stellt einen eigenen Grundrechtseingriff dar, der einer separaten Rechtfertigung bedarf.
Rechtfertigung
Einschränkbarkeit des Grundrechts (‚Schranke‘)
Das APR enthält die gleichen drei Tatbestände möglicher Grundrechtseinschränkungen (Schranken): „die Rechte anderer", „die verfassungsmäßige Ordnung" sowie „das Sittengesetz" (sog. Schrankentrias) wie die allgemeine Handlungsfreiheit. Praktische Bedeutung erlangt auch hier lediglich die Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung", da die anderen Schranken in dieser aufgehen. Zur verfassungsmäßigen Ordnung zählen nicht nur die Normen des Grundgesetzes, sondern alle im Einklang mit der Verfassung stehenden Normen.
Die Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung" wird in der Klausur daher in aller Regel wie ein einfacher Gesetzesvorbehalt (→ siehe Prüfungsschema Freiheitsgrundrechte) zu prüfen sein.
Grenzen der Einschränkbarkeit (‚Schranken-Schranke‘)
Bei einem Eingriff durch Gesetz ist im Folgenden die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zu prüfen (einstufiger Aufbau). Bei einem Eingriff aufgrund eines Gesetzes ist anschließend zusätzlich der Eingriffsakt zu prüfen (mehrstufiger Aufbau). (→ siehe ausführlich Prüfungsschema Freiheitsgrundrechte).
Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes
Formelle Verfassungsmäßigkeit
Detailliert: Siehe das Schema Gesetzgebungsverfahren.
Zuständigkeit: Gesetzgebungszuständigkeit
Verfahren: Gesetzgebungsverfahren
Form: Ausfertigung und Verkündung
Materielle Verfassungsmäßigkeit
Allgemeine materielle Anforderungen
- Verbot des Einzelfallgesetzes (Art. 19 I 1 GG)
- Verbot der Einschränkung des Wesensgehaltes (Art. 19 II GG)
- Bestimmtheit und Rückwirkungsverbot (allg.: Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 III GG; speziell für Strafgesetze, Art. 103 II GG
- Zitiergebot (Art. 19 I 2 GG) gilt nach Ansicht des BVerfG (str.) nicht.
Verhältnismäßigkeit
Legitimer Zweck
Grds. jedes öffentliche Interesse, das verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen ist.
Geeignetheit
Das Ziel kann grundsätzlich durch das Mittel erreicht werden.
Erforderlichkeit
Es existiert kein milderes, gleich geeignetes Mittel zur Erreichung des Ziels.
Angemessenheit: Sphärentheorie
Hier liegt in aller Regel der Schwerpunkt der Klausur. Dies sollte bei der Zeiteinteilung unbedingt berücksichtigt werden.
Sphärentheorie: Die Anforderungen an die Angemessenheit hängen von der Intensität des Eingriffs ab. Die Intensität kann u.a. nach der betroffenen Sphäre bestimmt werden:
Rechtfertigung bei Eingriffen in die Sozialsphäre
Sozialsphäre = Bereich, in dem sich der Mensch als soziales Wesen im Austausch mit anderen Menschen befindet.
Bsp.: Ausübung des Berufs, ehrenamtliche Tätigkeiten, Hobbys
Rechtfertigung: allgemeine Angemessenheitsprüfung ohne besondere Anforderungen.
Rechtfertigung bei Eingriffen in die Privatsphäre
Privatsphäre =
- räumlich: Leben im häuslichen Bereich, im Familienkreis, Privatleben
- thematisch: Sachverhalte, die sich typischerweise im privaten Lebensbereich abspielen
Rechtfertigung: Eingriff nur bei überwiegenden Interessen der Allgemeinheit unter strenger Wahrung der Verhältnismäßigkeit.
Rechtfertigung bei Eingriffen in die Intimsphäre (Kernbereich privater Lebensgestaltung)
Intimsphäre =
- Wird materiell bestimmt, also danach, ob der Inhalt anhand Art und Intensität der sozialen Bedeutung oder Beziehung eines jeweiligen Sachverhalts von höchstpersönlichem Charakter ist.
z.B. nicht bei Berichten über geplante, nach außen tretende Straftaten in einem Tagebuch
- Wird nicht formell bestimmt
z.B. nicht bereits alle Inhalte eines Tagebuchs
Bsp.: Äußerung intimster Gefühle, Ausdrucksformen der Sexualität, Verwertung von Tagebüchern mit höchstpersönlichem Inhalt, Rundumüberwachung (etwa in Psychiatrie)
Rechtfertigung: Keine Rechtfertigung eines Eingriffs möglich, da Ausdruck der unantastbaren Menschenwürde (Art. 1 I GG) und Schutz des Wesensgehalts (Art. 19 III GG).
Aufweichung der Sphärentheorie aufgrund unvermeidbarer Eingriffe in die Intimsphäre bei Auswertungen größer (insbesondere digitaler) Datenmengen
Bevor der Staat feststellen kann, welcher Sphäre ein Inhalt zuzuordnen ist, hat er diesen oftmals bereits erhoben (was einen eigenen Eingriff darstellt). Für die Feststellung ist dann eine Sichtung des Inhalts erforderlich (was einen erneuten Eingriff darstellt).
Beispiele: Infiltration eines PCs und anschließendes Filtern der erlangten Daten nach Informationen über Verbrechen, wobei auch pornografische Bilder aus der absolut geschützten Intimsphäre gefunden werden.
Bei strenger Anwendung der Sphärentheorie wären dies unter Umständen zwei nicht rechtfertigbare Eingriffe in die Intimsphäre. Die Sphärentheorie befindet sich daher zunehmend in Auflösung. In Bezug auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sowie das IT-Grundrecht sieht das BVerfG in im Informationszeitalter oft unvermeidbaren Eingriffen in die Intimsphäre daher nicht stets eine Grundrechtsverletzung an, sofern insbesondere die nachfolgenden zusätzlichen Voraussetzungen gegeben sind (nicht abschließend und auch vom konkreten Einzelfall abhängig):
- Zweckbindung für die erhobenen Daten
- Einhaltung gewisser Verfahrensgarantien:
- Während des Eingriffs:
Intimsphäre muss bei Erhebung, Auswertung und Verwertung hinreichend, durch unabhängige Stellen oder informationstechnische Sicherungen geschützt sein.
- Zumindest nach Eingriff:
Benachrichtigung und Auskunftsrechte des Betroffenen (nur so gerichtliche Kontrolle gem. Art. 19 IV GG möglich); Existieren von Berichtigungs- und Löschpflichten.
- Nach dem Eingriff:
Kein Datenaustausch zwischen Polizei und Nachrichtendiensten (informationelles Trennungsgebot) sowie zwischen sonstigen Behörden nur aufgrund zweier separater Ermächtigungsgrundlagen für Datenübermittlung und Datenabruf (Doppeltürprinzip).
- Heimliche Eingriffe zu präventiven (und nicht lediglich repressiven) Zwecken sind nur zulässig, wenn
- ...vor dem Eingriff bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut (insb. Leib, Leben und Freiheit der Person) hinweisen und
- ...grds. vor dem Eingriff – wegen der mit einer Wohnungsdurchsuchung vergleichbaren Eingriffsintensität, s. dafür Art. 13 II GG – eine Anordnung eines Richters oder einer sonstigen unabhängigen und neutralen Instanz vorliegt; Ausnahme für Eilfälle (etwa bei Gefahr im Verzug), wenn jedenfalls für eine anschließende Überprüfung durch eine neutrale Stelle gesorgt ist und
- ...nach dem Eingriff eine unabhängige Kontrolle (z.B. durch den Bundesdatenschutzbeauftragten) sichergestellt ist.
Ggf. Verfassungsmäßigkeit des Einzelakts
Urteil oder Maßnahmen aufgrund des Gesetzes.